Natürlich Sylt
Der Wikingerschatz von Morsum
Eine archäologische Wanderung auf der Nösse, die Wertvolles und Kurioses zutage fördert.
Der Wikingerschatz von Morsum
Eine archäologische Wanderung auf der Nösse, die Wertvolles und Kurioses zutage fördert.
Dr. Martin Segschneider gräbt sich gerne durch die Besiedlungsgeschichte der Insel. Er ist Prähistoriker und Leiter des Referats für Küsten- und Meeresarchäologie am Niedersächsischen Institut für Küstenforschung. Die Vor- und Frühgeschichte Sylts findet er spannender als jeden Krimi, erkennt sämtliche Grabhügel beim Namen und weiß um jeden Quadratmeter Erde, der auf der Insel bewegt wurde. Ein ausgemachter Experte also, der noch dazu an der Entdeckung des Morsumer Silberschatzes beteiligt war. Das wissen auch die meisten Teilnehmer seiner archäologischen Führung, die er an diesem Tag auf Einladung der Sölring Foriining und der Naturschutzgemeinschaft Sylt an der Ostspitze Sylt anbietet. Bevor es ans Morsumer Tafelsilber geht, muss sich die Gruppe aber erst mal durch viele Jahre Erd- und Besiedlungsgeschichte arbeiten. »Wir befinden uns hier auf der Geest und stehen inmitten einer der schönsten bronze- und wikingerzeitlichen Sakrallandschaften Deutschlands«, beginnt Dr. Segschneider seine Tour, macht eine 360-Grad-Drehung und zeigt auf kleine Erhebungen. »Die Grabhügel, die wir rundherum sehen, sind vor gut 1000 Jahren errichtet worden. Es entstand ein regelrechtes Beziehungsgeflecht, das von weit her sichtbar war.« Aber nicht jede Erhöhung ist auch gleich eine Grabstätte der Wikinger. Dr. Segschneider entlarvt sofort jeden Hügel, der sich unter dem Grasmantel der Vergangenheit in das noch bestehende Geflecht mogelt. »Achtung, das hier ist ein Bunker, da, der Belüftungsschacht.«
Mittlerweile an der Steilküste des Morsum Kliffs angekommen, rückt der Exkursionsleiter seine Kappe etwas tiefer ins Gesicht und zieht mit der Hand einen Halbkreis über das Wattenmeer. »Wenn man den Blick schweifen lässt, bekommt man ein Gefühl dafür, warum die Menschen zur Bronzezeit, also vor rund 4000 Jahren, hier siedelten. Das dänische Festland liegt gleich gegenüber und machte einen Austausch entlang der gesamten jütländischen Küste möglich.« Die Wikinger kamen erst ein paar tausend Jahre später. Als sie zwischen Tinnum, Archsum, Keitum und Morsum um 1000 nach Christus die zahlreichen Siedlungen übernahmen, war die Landschaft schon über 10000 Jahrelang von Menschen bewandert worden. »Hier oben wurden viele Steingeräte und Pfeilspitzen gefunden. Und in der Bronzezeit reichte der Handel bis hin zum Mittelmeer.« Segschneiders letzte Worte gehen in Hundegebell und Kindergeschrei unter. Bendix, mit sieben Jahren der jüngste Teilnehmer der Exkursion, hält freudestrahlen einen steinigen Fund in die Höhe. »Ahhhhh, die Jugend macht direkt weiter«, sagt Dr. Segschneider lächelnd und unterdrückt seinen Reflex, den Fund streng wissenschaftlich einzuordnen. »Da hast du was Tolles gefunden, Wahnsinn! Wir sehen also«, er wendet sich wieder der Gruppe zu, »Erosionen legen immer wieder neue Fundstellen frei. Die Bücher sind keinesfalls geschlossen.«
Es geht weiter, vorbei an zehn Millionen Jahren Erdgeschichte des Morsum Kliffs, vorbei an verbrannter Heidelandschaft, die seit der Bronzezeit eine solche ist und durch Schafe, Plaggen und Brennen eine solche bleibt. »Eine violett blühende Heidelandschaft wäre vielleicht optisch schöner, würde aber über kurz oder lang zu einer Verwaldung führen. Deshalb brauchen wir ein gewisses Chaos in der Heide.« Die Chaos-Theorie geht auf, zumindest was die Vielfalt der Kulturlandschaft angeht. Dr. Segschneider versammelt seine Gruppe vor einer weiteren Hügelgruppe. »Vor etwa 6000 Jahren ist Sylt eine Insel geworden. Die Menschen zur Bronzezeit hatten also bereits Meerblick und legten hier an dieser aussichtsreichen Stelle stattliche Hünengräber von bis zu acht Meter Höhe an. Die zentralen Gräber, für die Grabhügel während der Bronzezeit errichtet wurden, sind Körpergräber in Baumsärgen. Später, in der Eisenzeit, wurden die vorhandenen Grabhügel weiter für Bestattungen genutzt, allerdings für Urnen mit Leichenbrand, die man von außen in die Hügel eingrub.«
Ob es an den Ausführungen zu den diversen Toten ritualen oder an dem stärker aufkommenden Südwestwind liegt, der mittlerweile in Böen über das Plateau hinwegfegt – die Expeditionsteilnehmer frösteln und ziehen die Reißverschlüsse ihrer Windjacken bis zum Anschlag hoch. Nur Bendix trotzt den Naturgewalten und läuft, den Blick konzentriert nach unten gerichtet, vorweg. »Gleich geht’s los, Gold und Silber«, orakelt eine Stimme aus dem Off. Sie gehört zu Martin Lange, Großvater von Bendix und archäologischer Vertrauensmann, der sich diesen Status aufgrund vieler Fundmeldungen erarbeitet hat. Ein Sylter Urgestein gewissermaßen. Und tatsächlich, es geht los. Dr. Segschneider holt tief Luft und setzt an. »Wir nähern uns jetzt der Fundstelle des berühmten Silberschatzes. 1960 fand ein Morsumer Bauer beim Pflügen einen Armring aus Silberdraht. Das Landesmuseum Schloss Gottorf, das den Armring in die Zeit der Wikinger einordnete, kaufte den wertvollen Fund an. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, dass es noch einen zweiten Fund gab damals, zehn Jahre haben wir danach gesucht. Aber nichts, wir dachten schon, der ist weg.«
Erst 2015, als das geheimnisvolle zweite Fundstück von den Nachfahren des Bauern, das dieser jahrelang in einer Zigarrenkiste unterm Bett aufbewahrte, dem Hausarzt für seine langjährigen Dienste geschenkt wurde, kommt wieder Bewegung in die Sache. »Bei Kaffee und Kuchen zeigte er mir das Fundstück. Da brauchte ich erstmal ’nen Schnaps.« Dr. Segschneider, damals noch beim archäologischen Landesamt Schleswig-Holsteins tätig und zuständig für Sylt, erkannte sofort den historischen Wert des Metallrings und ordnete ihn als sogenannte Ringfibel ein. Eine reich verzierte Gewandspange aus Silber und Gold, die einst zum Schließen des Mantels diente. Während er über das Schmuckstück spricht, öffnet er seine Schultertasche, nimmt eine unscheinbare Schachtel heraus und öffnet sie. Zum Vorschein kommt die Ringfibel– mitten auf der Wiese, wo sie vor rund tausend Jahren vergraben und vor knapp 60 Jahren gefunden wurde. »Es ist das Tollste, was ich jemals gesehen habe«, sagt er, als er das Fundstück in die Runde hält. Großes Ah und Oh beiden Teilnehmern. »Ist DAS DIE Ringfibel? Ist die echt?« »Darf ich näher ran?« »Darf ich mal anfassen?« Langsam nähern sich alle dem Schmuckstück, berühren es mit imaginären Glacéhandschuhen und lassen ehrfürchtig die Finger über die goldenen Kugeln gleiten. Mit dem Fund der Ringfibel war klar, dass der silberne Armreif kein zufällig verlorenes Stück sein konnte. Alles deutete auf einen Schatz hin, der vor einem Jahrtausend im Morsumer Erdtresor vergraben worden war. Und so war es dann auch: 2017 konnten die Archäologen mit Hilfe von Metalldetektoren 180 Schmuckstücke, Münzen und auch Barren aus Silber mit einem Gesamtgewicht von einem Kilogramm sicherstellen. »Nach fast 60 Jahren fand also endlich wieder das zusammen, was zusammengehört. Passiert selten.« Die Ringfibel wird wohl schon im nächsten Jahr als Wikingerschatz von Morsum im Sylt Museum in Keitum gezeigt werden und Mittelpunkt einer neu konzipierten Ausstellung zum Zeitalter der Wikinger und Friesen auf Sylt sein. Und wer weiß – vielleicht ist ja auch irgendwann ein Fundstück von Bendix dabei.
Auf Sylt sind über 530 Grabhügel aus der Bronze- und Wikingerzeit bekannt, hinzukommen fast 50 Megalithgräber aus dem Neolithikum (Jungsteinzeit). Im Verlauf der Jahrhundertehaben Wind, Sand und Wasser die meisten Grabstätten verschüttet oder zerstört. Andere wurden geplündert, die Steine als Baumaterial verwendet oder im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht zu militärischen Anlagen umgebaut. Der Verein Sölring Foriining hat unter dem Namen »hünen. kulTour« drei Ausflüge zu den Überresten der historischen Stätten zusammengestellt. Infotafeln an den Rad- und Fußwegen klären über die Geschichte der Gräber auf. Den dazugehörigen Flyer gibt es im Sylt Museum und bei allen Tourismus-Services der Insel. www.soelring-foriining.de; www.soelring-museen.de.
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