© Torsten Wellmann

Natürlich Sylt

Auge in (Knopf)Auge

Seine Berufsbezeichnung lässt anderes vermuten, doch Seehundjäger Thomas Diedrichsen geht keinesfalls auf die Jagd nach den Meeressäugern. Sein oberstes Ziel lautet: Naturschutz.

Seehund
© LKN.SH/Martin Stock

Es ist vor allem die Ruhe, der man im Norden Sylts begegnet. Nur wenige Spaziergänger erkunden den Ellenbogen, im Winter wirkt dieser Teil der Insel beinahe komplett verlassen. Nichts als Wind und Wellen. Und die nördlichsten Ferienwohnungen Deutschlands, mitten im Naturschutzgebiet »Nord-Sylt«. Ein Ort, den man an diesem stürmischen Tag eigentlich gar nicht verlassen möchte. Doch ein kurzer Telefonanruf genügt und Thomas Diedrichsen schwingt sich in seinen Pick-Up. »Seehund in Hörnum«, beschreibt er kurz und knapp die anstehende Aufgabe und drückt auf das Gaspedal des Geländewagens – der Weg vom Ellenbogen nach Hörnum ist weit, zumindest für Sylter Verhältnisse.
Der Listland-Bewohner ist einer von vier Seehundjägern auf Sylt – was natürlich nicht bedeutet, dass er Seehunde jagt. Im Gegenteil. »Ich bin Jagdaufseher im Nationalpark Wattenmeer«, erklärt er auf dem Weg vom äußersten Norden in den tiefsten Süden der Insel: »Das steht vor allem für Naturschutz. Und damit bin ich auch für Seehunde, Kegelrobben und Schweinswale zuständig.« Die Zeiten, in denen in Deutschland Jagd auf die Tiere gemacht wurde, sind längst vorbei. Heute unterliegen Seehunde zwar immer noch dem Jagdrecht, doch tatsächlich werden sie ganzjährig geschont. Der Erfolg ist messbar. Zwar gibt es auf Grund von Krankheiten immer wieder Schwankungen in den Populationen. Aber aktuellen Zählungen zufolge leben im gesamten Wattenmeer und auf Helgoland 28.352 Seehunde, davon 10.746 in Schleswig-Holstein. Da bei den Zählungen in der Regel ein Drittel der Tiere im Wasser sind und nicht erfasst werden, geht man davon aus, dass der tatsächliche Bestand bei rund 15.400 Tieren liegt.

Seehund vor Sylt
© Adler-Schiffe/Holger Widera

Neben dem Seehund ist im Wattenmeer noch eine zweite Robbenart heimisch: die Kegelrobbe. Die massigen, über zwei Meter großen Tiere sind seltener anzutreffen als die Seehunde. Im April letzten Jahres wurden 7.649 Kegelrobben im Wattenmeer und auf der Helgoländer Düne gezählt. Dass die Tiere direkt an den Stränden Sylt auftauchen, ist gar nicht so selten. Thomas und seine drei Sylter Kollegen schätzen, dass im Durchschnitt gut 800 Tiere jährlich an den Küsten der Insel stranden, darunter Seehunde, Kegelrobben, Schweinswale, sogar ein toter Orka und ein Blauhai waren mal dabei.»Bei beiden Robbenarten wird der Nachwuchs nur drei bis vier Wochen gesäugt. In dieser Zeit kommt es selten vor, dass sie den Kontakt zur Mutter verlieren«, erklärt Diedrichsen, als er in Hörnum aus dem Wagen steigt. Geparkt hat er in sichrer Entfernung, um das Tier nicht zu erschrecken. »Liegen sie allein am Strand, sind sie entweder bereits abgestillt oder haben ihre Mutter verloren«, das hängt von der jeweiligen Jahreszeit ab. Spaziergänger hatten den jungen Seehund eine knappe Stunde zuvor am Strand bemerkt und die Schutzstation Wattenmeer verständigt. Ein Mitarbeiter war schnell vor Ort und sorgte dafür, dass Spaziergänger einen möglichst großen Bogen um die Robbe machen. Gleichzeitig informierte die Schutzstation den Seehundjäger. »Es ist besonders wichtig, dass man die Tiere in Ruhe lässt«, sagt Thomas. »Zum einen können sie beißen, zum anderen gibt es Krankheiten, die durchaus auf den Menschen übertragbar sind.« Die Tiere zurück ins Wasser zu jagen, könnte ihnen schlimmstenfalls sogar schaden.
Sie gar mit Wasser zu besprühen, habe überhaupt keinen Sinn. »Seehunde und Kegelrobben haben keine Kiemen, sie sind Lungenatmer. Alles was man tun kann, ist: Finger weg, ausreichend Abstand halten und die Schutzstation Wattenmeer, Seehundstation oder Polizei anrufen. «Mit einer Plastikwanne in der Hand nähert sich der Seehundjäger dem gemeldeten Tier nun langsam von hinten. »Die Gefahr lauert vorne«, erklärt er. Mit ihren großen Knopfaugen erscheinen Seehunde und Kegelrobben zwar wie niedliche Kuscheltiere – tatsächlich jedoch sind sie Raubtiere.

© Pixabay

»Was das angeht, haben wir schon alles erlebt. Da hat mal jemand einen Seehund in eine Decke gewickelt und mit in den Strandkorb genommen.« Der Seehund am Hörnumer Strand macht weder Anstalten zu beißen noch sich in Richtung Wasser zu bewegen. Ängstlich beobachtet das Tier den Menschen. »Wäre es gesund, dann würde es spätestens jetzt vor uns ins Wasser flüchten. Wenn wir in der Lage sind, den Seehund ohne weiteres zu fangen, müssen wir davon ausgehen, dass er geschwächt ist. Fitte Seehunde flüchten auf 100 Meter zu Wasser und je schwächer er wird, desto näher kann man rangehen.« Anders ist es bei Kegelrobben, dem größten Raubtier Deutschlands. »Die haben keine Scheu und bleiben liegen. Wenn man zu nah herangeht, fangen sie an zu fauchen und starten auch mal einen Scheinangriff. Das machen auch schon die Kleinen, die haben überhaupt keine Angst und wissen um ihre Stärke und ihre Bissigkeit. Es ist also völlig normal, dass man zu einer Kegelrobbe ziemlich nah herangehen kann.«Thomas hat keine Probleme, das Jungtier am Schwanz und im Nacken zu packen. Die Entscheidung, die er nun treffen muss, ist äußerst schwierig. Jedes Mal wieder. Kann das Tier überleben, oder muss es von seinen Qualen befreit werden? Bei einer ersten Untersuchung vor Ort kommt er zu dem Ergebnis: Dieser Seehund ist zwar ganz offensichtlich krank, doch er hat durchaus Chancen. Vorsichtig legt er ihn in die Wanne und spannt ein Netz darüber, damit er beim Transport nicht herausfallen kann. Schon während der Fahrt nach Westerland informiert er die Seehundstation in Friedrichskoog, dort soll das Tier versorgt werden. Seit 1985 nimmt die Seehundstation als einzige autorisierte Organisation in Schleswig-Holstein verlassene oder erkrankt aufgefundene Robben und Seehunde auf. Sie werden dort eingehend untersucht, aufgepäppelt und später wieder ausgewildert. Nach einem kurzen Telefonanruf ist man dort auf den Neuankömmling vorbereitet; Thomas selbst ist auf dem Weg zum Westerländer Bahnhof. Auf dem letzten Waggon des Sylt Shuttle geht die Reise für die kleine Robbe dann in Richtung Niebüll, wo sie von einem Mitarbeiter aus Friedrichskoog in Empfang genommen wird. Für den Sylter Seehundjäger ist dieser Fall noch nicht abgeschlossen. Jedes gefundene Tier muss genau dokumentiert werden. Doch die Schreibarbeit muss warten, denn Thomas sitzt schon wieder am Steuer seines Pick-Ups. Bis zu 30.000 Kilometer legt er pro Jahr im Rahmen seiner ehrenamtlichen Tätigkeit auf Sylt zurück, pro Tier erhält er lediglich eine Aufwandsentschädigung. »Kegelrobbe an Strandabschnitt 41«, lautete die Meldung am Telefon. Thomas nickt. Der Seehundjäger ist wieder unterwegs.

Torsten Wellmann

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