Natürlich Sylt

Insel der Freigeister

Die Renaissance der Bohème

Schon vor 200 Jahren erschienen die ersten Freigeister auf dem damals kargen Inselknust. Sie kamen noch vor den offiziellen Sommerfrischlern: Erst waren es Naturforscher*innen, dann Künstler*innen und Kreative aus den großen Städten, die Sylt als Quelle der Inspiration für sich entdeckten. Darauf folgte das wohl situierte Bürgertum, Adel und Industrielle - zunächst oft auf medizinischen Rat ihrer Leibärzte. Denn die Heilkraft des Reizklimas galt zunehmend als Goldstandard für den erschöpften Städter. In den kommenden Jahrzehnten gingen dann die wilde Natur, bürgerliche, großbürgerliche, mondäne und unangepasste Lebensentwürfe eine perfekte Allianz ein und schenkten dem Insel-Image eine schillernde Facette. Ob dieser Spirit inzwischen abhandengekommen ist und nur noch Luxus und Langeweile übriggeblieben sind? Mitnichten! Gerade jetzt gedeiht auf Sylt wieder eine junge, wilde Szene der „Neo-Bohèmes“. Wir begeben uns in der Herbstausgabe der digitalen „Natürlich Sylt“ in das Biotop der Spezies „Bunte Vögel“ und stellen einige von ihnen vor.

"Die Kunst ist kein Lückenbüßer, sie ist eine Notwendigkeit.“ (Siegward Sprotte)

© Sven Erberich
  • „Das geht raus an alle Spinner.
    Denn wir sind die Gewinner“ (Song von „Revolverheld“)

„FREIGEIST“  / ‚frai*gaist‘ (Substantiv, m)

Als Freigeist bezeichnet man seit dem 18. Jahrhundert Menschen, die Traditionen und tradierte Moralvorstellungen kritisch hinterfragen und eine individuelle, freie und selbstbestimmte Lebensart wählen - ungeachtet möglicher gesellschaftlicher Konsequenzen. Zumeist finden Freigeister in Metropolen ihr Habitat. Wenn sie auf dem Land leben, dann vorwiegend an Naturorten mit freilassenden Strukturen. Der Freigeist ist nicht zwangsläufig politisch, oft aber intellektuell sehr rege, tritt ein für Toleranz, freiheitliche Grundordnungen und gesellschaftliche Vielfalt. Tätig sind Freigeister besonders häufig als Kunst- und Kulturschaffende, Musiker, Publizisten, Autoren, Fotografen, Gastronomen, Yoga- und Bewegungslehrende, Naturkundler und ganzheitliche Therapeuten. Beinahe bedeutungsgleich mit Freigeist sind die Begriffe: Freidenker, Schöngeist oder Bohème.

© Familie Landt

KOSMOS KUNST

Sylt kann auf Dutzende Galerien und Ausstellungsräume mit Highend-Portfolios verweisen. Ganzjährig hier beheimatete Künstlerinnen und Künstler stehen dagegen eher auf der Roten Liste. Selbst in Kampen, dem Dorf mit der größten Kunst-und-Kultur-Tradition, gibt es heute noch genau einen Vertreter dieser Gattung: den gebürtigen Worpsweder Kunstgrafiker Thomas Landt, der noch bis in den Oktober hinein mit seiner Familie im „Kaamp-Hüs“ ausstellt.

JAN KOPPERS, FREISCHAFFENDER MALER UND BILDHAUER

„Schön krawallig"

Ein Exot und lupenreiner Vertreter der Sylter „Neo-Bohème“ ist Jan Koppers: Sein Atelier hat der gebürtige Nordrhein-Westfale in einem ehemaligen Schuppen, vielleicht war’s auch mal eine Garage. Wie auch immer. Man findet ihn jedenfalls in Alt Westerland. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Friedhofskapelle. 
Jan hatte das Glück einer Vermieterin, die es für wichtig hält, dass Sylt seine freien Geister ehrt. Durch bezahlbare Mieten zum Beispiel und genügend Freiraum. „Ich habe in den letzten Monaten hier alles komplett renovieren und umbauen dürfen. Jetzt habe ich einen Wohlfühlort für meine Arbeit, und die Miete bekomme ich auch gut hin“, erzählt Jan in dem lichten Raum mit den Glasbausteinen, der jeder Bilderbuchvorstellung von einem Künstleratelier Rechnung trägt: Halb und ganz vollendete Werke an der Wand und auf dem Boden, Skulpturen, ein Moodboard mit Zitaten, eine Kanne schwarzer und angemessen bitterer Kaffee, Jans Mini-Tetrapoden, die als Souvenir Erfolgsgeschichte schreiben. Farben, Pinsel und Leinwände sind weitere Requisiten. Also alles so, wie es sein soll. Man könnte stundenlang schauen.

Die dunkle Seite der Macht

Dann sagt Jan Koppers beiläufig, was entscheidend ist, um ihn und andere, die aus seinem Holz geschnitzt sind, besser zu verstehen: „Ich glaube, ich habe mir das gar nicht ausgesucht, als Künstler zu leben. Ich bin schon so auf die Welt gekommen.“

Spannend gerade in seinem Fall. Denn er hat sogar mal versucht, die andere „Seite der Macht“ anzusteuern. Und das, obwohl seine Mama selbst Künstlerin ist und ihr Vorbild prägend war. Aber Jan Koppers hat zunächst BWL studiert, vielleicht auch aus Trotz, um festzustellen, dass das nicht geht.

Dann klopfte er ihn frei, seinen kreativen Kern, studierte Design in Hamburg, übernahm grafische Jobs in der Werbebranche, war aber vor allem auch bei innenarchitektonischen Projekten mit gestalterischer und handwerklicher Expertise im Einsatz. „So habe ich Sylt kennengelernt - durch die Arbeit. Die Sylter Mischung aus menschlicher Vielfalt, dörflicher Nähe, wilder Natur, dem Wechsel der Gezeiten und Jahreszeiten, die lieb’ ich.

© Holm Löffler
© Holm Löffler
„Ich glaube, ich habe mir das gar nicht ausgesucht, als Künstler zu leben. Ich bin schon so auf die Welt gekommen."
Jan Koppers, Künstler & Bildhauer

Man fühlt sich behütet und trotzdem frei. Eine ideale Umgebung für einen wie mich“, beschreibt Jan, was vor ihm schon anderen so ergangen ist: Auch wenn Freigeister manchmal mit dem ländlich-dörflichen Aspekt der Insel hadern, bietet Sylt doch einen idealen Nährboden. Vielleicht gerade wegen der menschlichen Nähe und Überschaubarkeit, die ebenso Geborgenheit spendet wie sie auch Enge bedeuten kann. „Auf einer Insel ist halt Wasser drumherum. Das begrenzt, schafft einen Rahmen und schenkt Geborgenheit“, hat dieses Phänomen einmal Autor, Kolumnist und Dramatiker Moritz Rinke formuliert, der Anfang dieses Jahrtausends der erste Sylter Inselschreiber war. Mit seinem Stipendium von der „Sylt Quelle“ lebte und arbeitete er eine Weile auf Sylt und konnte nachempfinden, warum die Insel der Künstlerseele guttut und einen prächtigen Rahmen für kreatives Arbeiten bietet. Die Projekte und Initiativen von Mäzenin, Freigeist und Mineralwasser-Unternehmerin Indra Wussow füllten vor 20 Jahren den Aspekt des Sylt-Images als Insel der Literaten und Künstler mit frischem Leben. Innovativ und zukunftsweisend.

Jan Koppers ist seinen Weg weitgehend alleine gegangen. Der Drang, sich ganz der Kunst zu widmen, wurde bei ihm immer größer. „Keine Kompromisse mehr“, hieß irgendwann seine Entscheidung. Er hat dafür Hürden genommen und Untiefen durchschritten - und das nie bereut. „In Corona musste ich mein Atelier in Keitum räumen und wohnte übergangsweise in einem maroden, zugigen Gartenhaus. In einer wilden Sturmnacht wurde mir klar, dass ich im Verhältnis zu so vielen, reich und total privilegiert lebe. Die Angst war weg und ich fühlte mich frei. „Ein Schlüsselmoment“, meint Jan, der Mann mit dem Signature-IgeI-Haarputz.

Es folgten unbequeme Stationen, die letztendlich alle dazu führten, dass er heute als 100-prozentiger Künstler lebt. Er richtet sich nach seinem inneren Kompass, der natürlich anders funktioniert als der der meisten Zeitgenossen. So ist Jan diesen Sommer immer um 4:30 Uhr aufgestanden und hat in den Morgen hineingearbeitet. Um „Jetlag“ zu vermeiden, hat er sich Richtung Wochenende eine Stunde mehr Schlaf gegönnt, um dann am Wochenende auch mal „am normalen Leben“ teilzunehmen.
Wenn er sich manchmal wochenlang nicht meldet, ist ihm keiner seiner Freunde böse. Ablenken von seinem Arbeitsdrang lässt er sich nur manchmal: von strahlendem Inselwetter zum Beispiel oder von Einladungen seiner Wahlfamilie nach Kopenhagen: „Die Stadt ist so inspirierend. Ich liebe skandinavische Kunst und Lebensart. Aber irgendwie arbeitet man auch dort innerlich immer weiter.“

Individuelle Workshops

Um Miete, Material und seinen Alltag zu finanzieren, teilt Jan seine Begeisterung, sein Können und seine Liebe zur Kunst mit anderen: „Ich gebe individuelle Workshops - in Malerei und Bildhauerei. Gerade auch die Arbeit mit Kindern ist ein Geschenk. Die sind so unverfälscht und schön krawallig." Krawall - ist übrigens eines seiner Lieblingsworte. Und das passt zu ihm - wie die Faust aufs Auge.

Alle Infos über den Künstler und Bildhauer Jan Koppers:

MELF PETERSEN ALIAS PELF METERSEN

Künstlerisches Pendeln

In den 50er Jahren war das Lebensmodell „Atelier plus Ausstellung“ für Sylter Kunstschaffende gängig und oft auch lukrativ. Die unmittelbare Begegnung des Locals oder des Badegastes mit der Bohème sorgte für bleibende Erinnerungen, die man gerne mit einem gekauften Werk für die heimischen Zimmer untermauerte. Der Tourismus ermöglichte Künstlern und anderen Freigeistern ihr Auskommen, tut es bis heute. Umgekehrt sorgten Maler - wie z.B. Siegward Sprotte als einer der prominentesten Vertreter dieser Lebensform - schon in den 50er Jahren für Flair, intellektuellen Anspruch und Seele in der Sylter Lebenswelt. Die stetig steigenden Mieten und Kaufpreise kratzten an der Basis dieses Erfolgsmodells und ließen neue Lebensformen entstehen. So wie das von Melf Petersen.

Ob er auf die Insel ziehen würde, wenn er könnte, ist allerdings eher unwahrscheinlich. Der Musiker, Grafiker und Künstler aus dem nordfriesischen Bosbüll hat dort (bis auf zehn Jahre im Hamburger Exil) sein ganzes Leben verbracht. Er kommt allerdings gerne mal rüber auf die Insel, wenn auch nicht so regelmäßig wie die meisten anderen Pendler in bürgerlichen Berufen.

Melf Petersen stellt seine Illustrationen, die die nordfriesische Landschaft so hübsch in Formen zerlegen und neu zusammensetzen, in Kampen genau dort aus, wo ein anderer dieses Fachs sein größtes Monument hinterlassen hat: Günter Rieck fand untermittelbar nach dem Krieg in einer Kampener Flakstellung am Watt einen Unterschlupf und schuf daraus - angenehm anarchistisch und im Widerstand gegen alle möglichen behördlichen Regeln - einen verwunschenen Ort, ein Café, eine Disko, eine Bar und ein Atelier mit Magie.

Die „Kupferkanne“ - bis heute eines der Top-Ausflugsziele auf der Insel - zeigt gerade Werke (und auch Postkarten) von Melf Petersen und es lohnt sich sehr, das mal anzuschauen. Es verwundert nicht die Spur, dass der Multikreative entlang der Nordseeküste für sein Tun gefeiert wird, denn sein Stil passt so sehr in den Norden. Wie auch sein Künstlername, der norddeutsch-trockener und selbstironischer nicht sein könnte. Denn wenn er malt, siebdruckt oder illustriert, wird aus Melf Petersen ein Pelf Metersen. Genial. Mehr nordfriesisches Augenzwinkern geht nicht.

© Sven Erberich

KOSMOS YOGA

Yoga ist auf Sylt seit vielen Jahren eine Riesenthema mit einem breiten Portfolio an Lehrenden und Stilrichtungen. Ob am Strand, in Studios, als Retreat oder als Einzelunterricht zuhause: Für fast jedes Bedürfnis gibt es das passende Angebot. Hinzu kommt neuerdings eine junge Szene Freigeister von der Insel und überall her, die sich auf die unterschiedlichsten spirituellen Techniken und Rituale verstehen wie Breathwork, Klangschalenbad, freier Tanz, Kakaozeremonien. Die Termine zu diesen Retreats und Workshops werden aktuell über die WhatsApp-Gruppe „Conscious Events Sylt" geteilt. Jennifer Abel, Yogalehrerin u.a. für Sylter Schwangere und für Strandsessions in Wenningstedt, verwaltet dieses Info-Medium zusammen mit einem kleinen Kreis Admins. Wer in die WhatsApp-Gruppe aufgenommen werden möchte, schreibt eine Mail an: lunaflow.sylt@gmail.com

BEWEGUNGSSCHULE À LA HALIMA ELKASMI

„Geht nicht? Gibt’s nicht!“

Sylt ist ein Eldorado, um Körper und Geist zu erfrischen, Heilung zu erfahren. Halima Elkasmi ist ein Beispiel für die Gruppe Freigeister, die andere an ihrem Wissen teilhaben lässt.

Halima Elkasmi hat neun Geschwister. Sie war ein wildes Kind mit einem Riesentalent für Bewegung. Im Kampfsport wurde sie schon jung zu einer Top-Athletin. Für ihre „Hibbeligkeit“ - vielleicht würde man Halima sowas wie ADHS diagnostizieren - fand sie nach vielen Verletzungen und schmerzhaften Erfahrungen als junge Erwachsene einen Umgang, mit dem sie den vermeidlichen Makel in eine Tugend verwandeln konnte. Das gelang mit dem Mut, den es immer braucht, wenn man sich für einen ungewöhnlichen und individuellen Weg entscheidet. Die Liebe und der Zuspruch ihrer Familie sorgten für den nötigen Rückenwind.

„Klar, ich habe bis heute einen großen Bewegungsdrang, brauche Abwechslung und viel Input. Entsprechend habe ich mein Leben eingerichtet“, erzählt sie. Halima schuf sich ihren eigenen Kosmos. Sylt spielt darin die zentrale Rolle. Als Lebensmittelpunkt, Kraftquelle, Arbeitsort. Halima lehrt Menschen, wie man die Fähigkeiten des Körpers umfänglich nutzt oder wiederherstellt, wie man zurück kommt in die Kraft und in die motorischen Möglichkeiten, die man als Kind hatte.
Ihre Spezialität: Sportler*innen nach Verletzungen wieder in die Lage zu versetzen, aus sich selbst heraus fit und schmerzfrei zu werden. Halima gibt Workshops, Einzel- und Gruppenunterricht auf Sylt und überall. In ihrem Arbeitsbaukasten hat sie sich auf funktionale Bewegungslehre spezialisiert. Alles maßgeschneidert im Halima-Style. Breathwork, Neurowissenschaften und Yoga spielen in diesem Konzept eine Rolle, aber ohne Anspruch auf Ausschließlichkeit, ständig in der Weiterentwicklung.

© Sven Erberich
© Sven Erberich
„Klar, ich habe bis heute einen großen Bewegungsdrang, brauche Abwechslung und viel Input. Entsprechend habe ich mein Leben eingerichtet."
Halima Elkasmi, u.a. Yoga & Functional Movement Trainerin

Von Sylt bis Portugal

Zusammen mit befreundeten Kolleginnen bietet sie auch Retreat-Programme an, beispielsweise in Portugal. Ihre Kundinnen und Kunden sind Insulaner und Menschen, die wegen ihr nach Sylt kommen oder mit ihr reisen, um sich in schönster Umgebung um Körper und Geist zu kümmern. Weil sie Aufgaben liebt, die fordern, übernimmt sie zudem seit Jahren Service-Schichten im „Samoa Seepferdchen“ in Rantum. „Das versteht durchaus nicht jeder. Aber was soll ich sagen: Ich liebe diesen Job. Ich brauche das.“

Dass sie arbeitet und rumrennt und Workshops anbieten kann, grenzt im Augenblick ohnehin an ein Wunder: Bei einem Fußballtraining mit ihrer Sylter Gastro-Mannschaft erlitt sie vor ein paar Monaten einen doppelten Wadenbeinbruch, ließ sich von ihrer eigenen Schwester im Ruhrgebiet operieren, von ihrer Mama aufpäppeln und ist der beste Beweis, dass die Methode „Halima“ funktioniert. „Ich kann schon fast alles wieder und habe keine Schmerzen“, erzählt sie.

Und weil zu einem Leben als „Bunter Vogel“ auch gehört, dass man ausgewählte Konventionen auch mal zulässt, dann noch das: „Ich heirate bald - und mein Mann und ich werden dann manchmal in Hamburg wohnen. Aber eben nur manchmal. Denn ohne Sylt kann ich gar nicht.“

Mehr spüren mit Halima Elkasmi:

Oops, an error occurred! Code: 20241221151713506ef57e
© Sven Erberich

KOSMOS GASTRO

"Café Lund“ und das „Strænd“ in Hörnum, die „Rantumer Kaffeerösterei“, das „Toffree“ (,tofree’ = zufrieden) in Tinnum, „J’s Soul Café“ in der „Neuen Mitte“ Westerlands, das „Twisters“ auf dem Wenningstedter Kliff, „Tatjem Deel“ in Rantum,  „Zur Goldenen Möwe“ an der Promenade, der „Käseclub“ in Keitum oder eben das „Café Curve“ in Braderup: Was all diese Sylter Gastro-Spots verbindet? Ganz einfach: Sie sind die Lieblingslokale der Sylter Surf-Dudes, der alternativen Szene, der jungen Kreativen und von jungen Familien und ziehen damit natürlich auch Menschen aller Himmelsrichtungen an, die den unaufgeregten Spirit, Bio, Veganes und Vegetarisches, unprätentiöse Lockerheit und frischen Style mögen. Die Wirte und Erfinder dieser Spots tragen viel von dem unorthodoxen Lebensstil selbst in sich.

IM INTERVIEW MIT EINEM GASTRO-BOHÈME

4 Fragen an David Curve

Dein Vorleben in drei Sätzen?
David Curve (eigentlich Behrens, aber auf Sylt verschmilzt man namentlich gerne irgendwann mit seiner Aufgabe):
Mein Bruder und mein Stiefvater sind Kunsthandwerker und betreiben die Ledermanufaktur - in der ehemaligen Scheune in Braderup, in der ich auch das Café habe. Ich habe Wurzeln auf der Insel, habe aber lange in Berlin gelebt und dort eigentlich alles gemacht: Ich war DJ, hatte einen Crêpe-Stand, habe Schauspiel und visuelles Marketing gelernt. Es war für mich irgendwann Zeit, mal etwas ganz Neues zu wagen, der Stadt den Rücken zu kehren, eine Familie zu gründen und einen Ort der Begegnung für eine junge Sylter Szene zu kreieren.

Deine wievielte Saison ist das jetzt schon und vor welche Herausforderungen hat sie Dich gestellt?
Es ist unsere sechste Saison und durch unsere Erweiterung mussten wir alle Strukturen neu denken, alle Arbeitsabläufe anders aufsetzen. Wir hatten teilweise sechs Aushilfen. Der Laden beschäftigt mich fast ununterbrochen. Das ist herausfordernd, aber toll. Ich finde es großartig einen Ort geschaffen zu haben, der mehr ist als die Summe seiner Teile. Hier passiert was - vor allem viel Begegnung. Braderup ist prädestiniert für inspirierende Orte. Es hat mich total gefreut, dass sogar ein Stadtentwicklungsbüro aus Berlin, das gerade für Wenningstedt arbeitet, genau das gespürt hat und gesagt hat, wie gut so ein Ort mit dieser Energie der Insel tut.

© Sven Erberich
© Sven Erberich
„Ich finde es großartig einen Ort geschaffen zu haben, der mehr ist als die Summe seiner Teile."
David Behrens, Inhaber und Betreiber von Café Curve

Worin besteht Dein Talent?
Ich bin, glaube ich, sehr gut im Anschieben und darin, Menschen zusammen zu bringen. Mit dem „Café Curve“ lerne ich gerade noch weit darüber hinaus. Ich übe mich in Kontinuität, ohne dabei still zu stehen. Mein Sohn kommt diesen Sommer in die Schule - das sind alles neue Herausforderungen, die mich anders fordern als mein Leben in Berlin. Früher hätte ich schon längst etwas Neues angefangen, jetzt entwickele ich die Dinge weiter.

Was magst Du an Deinem Café und Deinem Store für schöne Dinge besonders?
Im Frühsommer hatten wir einen „Open Mic Abend“ bei uns gemacht, da kam alles auf den Punkt zusammen, was ich mag: Begegnung, Kreativität, Gastlichkeit und tolle Künstler. Das Format wollen wir gerne etablieren, aber wenn man das regelmäßig macht, müssen wir natürlich auch die behördlichen Auflagen beachten. Da bin ich gerade dran.

Ein Clip vom "Open Mic Abend" in der Curve:

© Media Matrosen

BUNTES BRADERUP

Habitat für Freigeister

© Imke Wein

Der kleine Ortsteil am Watt ist seit Jahrzehnten ein legendärer Spot für Freigeister, für Engagement und besondere Ideen: Auf den Braderuper Feldern wurde zudem schon biologische Landwirtschaft betrieben, bevor der Begriff Allgemeingut war. Auch die „Ledermanufaktur“ sowie das „Coco & James“ bieten einen urigen Rahmen für Kunst, individuelle lokale Produkte und ebensolche Erlebnisse. In unmittelbarer Nachbarschaft ist die Naturschutzgemeinschaft beheimatet. Eine Institution, in der sich Freigeister seit 100 Jahren für den Erhalt der Inselnatur engagieren. Auch die Schauspielerin, Vordenkerin und politische Aktivistin Klara Enss wirkte als Vorsitzende in der Naturschutzgemeinschaft. Hier, in der ehemaligen Wehrmachtsbaracke eröffnete auch die legendäre Künstlerin, Bäuerin und Hutmacherin Inge Dethlefs in den 90er Jahren den ersten Biomarkt der Insel, den „Körnerladen“, mit dem so vieles begann, was nicht nur Bunte Vögel zu einem bewussten Leben brauchen.

Das Leben von Inge Dethelfs, ihrer Familie und 19 anderen individuellen Lebensentwürfen aus Wenningstedt und Braderup, erzählt das Buch „Zuhause am Meer“ von „Natürlich Sylt"-Autorin Imke Wein: Eine Prise Chronik, eine gehörige Portion Sylter Biografien und ganz viel Bilderbuch.

„J'S SOUL COFFEE" IN WESTERLAND

Little Italy auf einer Wiese in der City

Jarla Hader ist Sylterin, studierte Sozialpädagogin, 28 Jahre jung und das perfekte Beispiel für die junge Sylter Bohème. Sie hat sich in den letzten Jahren in Nordfriesland um Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen gekümmert. Ihr großer Traum war parallel dazu schon immer dieser: ein Café mit viel Charme und ökologisch wertvollen Produkten auf ihrer Zuhauseinsel zu eröffnen.
Den ersten großen Schritt dahin ist sie diesen Sommer gegangen: Mit einer exzellenten Siebträgermaschine, einem umgebauten Pferdewagen und einem unbeirrbaren Instinkt für Gastfreundschaft und Schönes. Von der Gemeinde Sylt hat sie die Möglichkeit bekommen, ihren Stand in der „Neuen Mitte“ in Westerland zu platzieren.

Dort, wo im Winter der Weihnachtsmarkt Budenzauber verströmt. Schon wenige Tage nach dem ersten „Flat White mit Hafermilch“ war klar: Hier gibt’s nicht nur Bio-Gebäck und herrlichen Kaffee, sondern das pralle Leben als Zugabe. Mit beinahe urbanen Vibes. Aber eben alles in niedlich und insular gemütlich.

© Louisa Breitung

Vor dem Kaffeewagen ist ein richtiger Platz entstanden. Einer, auf dem Pärchen knutschen, Straßenmusiker*innen ihren Hut aufstellen, Kinder rennen, Menschen aller Generationen ins Gespräch kommen. Wunderbar. Little Italy auf einem grünen Rasen mitten in Westerland.

Wie es weiter geht für Jarla? Ist noch nicht ganz gewiss! Was aber klar ist: der erste Sommer war ein Knüller. Denn es braucht Orte wie „J’s Soul Coffee“ - Orte mit Seele eben.

© Sven Erberich

KOSMOS ZUKUNFT

Es gibt noch ein paar Sylter, die vorwiegend vom Fischfang leben und im Sommer häufiger draußen in der Natur schlafen als im heimischen Bett. Herrlich kauzige Gesellen mit einem radikal alternativen Lebensentwurf. Der Fang wird nicht wirklich kommerzialisiert, sondern verteilt und selbst verzehrt. Und natürlich enthüllen wir sie hier nicht, damit sie auch weiterhin genauso sein dürfen, wie sie sind.

WILDNESS-LEHRER MATTHIAS POPPEK

Irgendwo im Nirgendwo

Bei einer Umfrage nach dem Insel-Naturburschen mit dem unkonventionellsten Lebenswandel bekäme aber wahrscheinlich auch dieser Mann viele Stimmen: Matthias Poppek, Wahl-Insulaner, gelernter Tischler, Vater von zwei studierenden Kindern, Purist im Lebenswandel, zumeist mit seinem klapprigen Bus und seinem Hund „Bobo“ unterwegs. Soweit - so sympathisch wie unspektakulär. Aber jetzt kommt’s: Matthias arbeitet gerade daran, ein mehrere Hektar großes Areal mit Wald mitten in Schweden zu erwerben. Irgendwo im Nirgendwo, auf der Grenze zu Lappland. Mit dem Ziel dort zwei Blockhütten nach alten Prinzipen zu bauen - aus selbst gefällten Bäumen - Mondholz versteht sich. Eine Hütte für ihn, eine für seine Freundin. Die beiden wollen vorwiegend im Winter dort leben. Matthias wird im eigenen Wald jagen. Von Frühling bis Herbst wird er aber oft auf Sylt sein. Denn die Insel ermöglicht ihm die wirtschaftliche Basis für seinen Lebensentwurf.

„Die Blockhäuser sind mein Projekt der nächsten zwei Jahre“, sagt der Mann mit dem herrlichen Lachen. Und es gibt keinen Grund zu bezweifeln, dass er das nicht genauso machen wird. Er hat in seinem Leben oft bewiesen, dass er abenteuerliche Visionen auf den Boden bringt. Mit einem selbst renovierten Hof im Wendland zum Beispiel. „Einiges hat auch nicht geklappt. Aber 'burning ist bekanntlich learning'. Zum Wachsen muss man Fehler machen“, meint er augenzwinkernd und zeigt dann drei Sylter Jungs, mit welchen Methoden man draußen in der Natur Feuer machen kann. Sein Humor, seine unpädagogische Pädagogik sind Gold wert. Seine freilassende Art ist Poppeks Superkraft. Denn sich mit wohlmeinenden, kantigen Typen zu umgeben, schafft für Kinder unvergessliche Erinnerungen, prägt die kleine Seele und weitet den Blick. Matthias Poppeks Erfolgsrezept: Der gestandene Mann ist selbst im Herzen wie ein großer Junge, sich dabei seiner Verantwortung aber stets bewusst. Poppek erinnert an Popeye, den Zeichentrickseemann mit dem Spinat und klingt ein wenig wie Poppins - der Vergleich zu der Nanny aus dem Musical ist durchaus nicht von der Hand zu weisen.

© Holm Löffler
© Holm Löffler
„Es gibt eine wachsende Nachfrage nach den Kursen. Das freut mich."
Matthias Poppek, Tischler & Wildnisexperte

Bloß lehrt der Poppek andere Disziplinen: Er zeigt Kindern und bei Bedarf auch Erwachsenen in seinen Wildnis-Kursen, wie man in der Sylter Natur Essbares findet, wie man sich ein Lager baut, mit Wind, Gezeiten und Wetter umgeht. Wie man Abenteuer besteht. Großartige Skills in einer oft so vorgefertigten Welt. Für sein Tun mit Kindern hat Matthias Poppek auch Unterstützung vom Bürgermeister von Wenningstedt bekommen: Direkt zwischen Norddörfer Halle und Tennisplatz wurde eine Feuerstelle gepflastert, damit es einen Ort gibt, an dem das Element Feuer für Kinder und Jugendliche erfahrbar wird - begleitet natürlich von einem Wissenden.

In seiner Werkstatt auf dem Braderuper Hof der Dethlefs arbeitet er auch noch als Tischler und baut Möbel auf Bestellung. „Es gibt eine wachsende Nachfrage nach den Kursen. Das freut mich“, meint er zufrieden. In seinen Werkstatt-Kursen unterstützt er Kinder, das Schmieden zu erlernen, zu drechseln und zu schnitzen. Einer seiner drei Schüler an diesem Nachmittag bringt es auf den Punkt: „Ich habe heute in ein paar Stunden mehr gelernt als manchmal in Wochen.“ Eine größere Verneigung vor einem Lehrer gibt’s wohl nicht.

Feurige Wildnis-Kurs-Einblicke:

FRIEDA MONTESFUCO

& die Freie Schule Sylt

Frieda Montesfusco ist ein Freigeist in Reinkultur. Die Tochter zweier Sylter Gastronomen mit Berliner Wurzeln eckte als Kind im Sylter Schulzentrum der 90er Jahre vehement an. Selbst da, wo eigentlich alles rund war. Denn Frieda konnte und wollte sich Konventionen und sinnfreien Vorgaben einfach nie beugen. Tut sie bis heute nicht. Zum Glück hatte sie einige Förderer, die ihr Talent und ihre Sehnsucht verstanden haben und mit ihr künstlerisch arbeiteten.

Als Heranwachsende wurden ihr die Inselgrenzen aber doch zu eng. Ihre Eltern erkannten die Not des Kindes: Frieda durfte in einer internationalen Gemeinschaft in Bergen ihr Abitur machen und später in Wales Kunst studieren. Sie fühlte sich nicht länger als Enfant terrible, sondern angenommen, angekommen.

© Nicole Mai
© Nicole Mai
„Wir brauchen einen festen Schulstandort, ein Gebäude oder ein Grundstück, auf dem wir Container platzieren können. Davon hängt alles ab.“
Frieda Montesfuco, Mitgründerin "Freie Schule Sylt"

Ihrer Heimatinsel blieb sie immer tief verbunden, lebte aber zunächst ein buntes Künstlerleben in Berlin. Sie lernte Marco aus Neapel kennen. Ihr Seelenverwandter. Das dreisprachige Paar kehrte irgendwann zurück nach Sylt, um hier als Familie unter einem weiten Himmel zu leben. Und die Story könnte an dieser Stelle ihr „Happy End“ haben.

Das Entscheidende folgt aber: Frieda und eine engagierte Gruppe Sylter Eltern und Pädagog*innen  sind auf dem Weg eine „Freie Schule“ für Sylter Nachwuchs zu gründen. Eine, in der viel draußen gelernt wird, in großen Zusammenhängen, mit allen Sinnen und in liebevoller Umgebung. Der erste Gedanke für dieses Projekt liegt schon ein paar Jahre zurück und stammt von der Sylterin Johanna Erken. Ein Verein wurde gegründet, Sylter Eltern begeisterten sich für die Alternative und meldeten ihre Kinder vorausschauend an.

Das Konzept ist inzwischen fertig und liegt beim Ministerium. Dank einer Spende konnte ein wunderschöner Zirkuswagen angeschafft werden, der aktuell in Kampen im Avenarius-Park steht und für kreative Angebote sorgt. Damit das Gründungsteam der „Freien Schule“ wirklich im Schuljahr 2025/26 an den Start gehen kann, gibt es jedoch noch ein Manko: „Wir brauchen einen festen Schulstandort, ein Gebäude oder ein Grundstück, auf dem wir Container platzieren können. Davon hängt alles ab“, meint das Gründungsteam - überzeugt, dass die Sylter Schule für eine neue Generation Freidenkerinnen und Freidenker Wirklichkeit werden kann.

„Freedom is a state of mind“

(Albumtitel von der Band „Corporate Avenger“) // Kolumne von Imke Wein

© Imke Wein
00:00

Wieso Sylt sich als Nährboden für Kunst, Bohème und unkonventionelle Lebensentwürfe eignet, hat sich in unserer kleinen Galerie junger Freigeister selbst erklärt: Es liegt an der Weite und Kraft der Natur und in gleichem Maße an den fruchtbaren Strukturen des gehobenen Tourismus. Denn Freigeister sind zumeist Puristen, aber wenn sie ihre Talente und ihr Wissen auf Sylt nicht an die Frau, an den Mann und an das Kind bringen könnten, würde selbst die beste Luft und die schönste Natur nicht zum Leben reichen. Der dritte wichtige Grund für gute Bedingungen liegt in der Natur der Friesen. Früher waren es die Sylter Seefahrer, die die Welt bereisten und den weiten Horizont im Herzen trugen. Heute sind es die jungen Sylter, die (oft surfend) überall an den internationalen Küsten zuhause sind, die weltgewandt und offen sind für Neues. Schon vor 200 Jahren haben Insel-Männer und ihre extrem selbstständigen Frauen neue, bislang unbekannte Lebensentwürfe als Bereicherung erlebt. Türen und Herzen geöffnet für Gäste - gerne auch für solche, die nicht der Konvention entsprachen und für neue Impulse sorgten. Und genau das hat abgefärbt und sich gegenseitig befruchtet. Menschen spüren intuitiv, was ihnen guttut. Dass mit den Syltern und den Bohèmes passt wie Yin und Yang.

Exemplarisch für solche urwüchsigen und herzensreinen Friesen sei hier Jon Andresen genannt: Tinnumer Sproß einer Seefahrerfamilie, der einzige Sohn von acht Geschwistern und im letzten Jahrhundert in den unterschiedlichsten Missionen auf den Weltmeeren unterwegs. Seine Neffen und Großneffen erzählen von seiner Toleranz, aber auch von seiner Fähigkeit, vermeintlichen Autoritäten die Stirn zu bieten. „Er war selbst ein Freidenker - mit den Küstenschützern im Clinch, lieferte sich Auseinandersetzungen, wurde nie müde gegen Dinge zu wettern, von denen er nichts hielt. Gleichzeitig war er super aufgeschlossen und tolerant“, beschreibt Desche Behrens seinen Großonkel. Er hat dem freidenkenden Vorfahren mit „Onkel Johnny’s Strandwirtschaft“ in Wenningstedt ein ehrendes Andenken bewahrt.

00:00
© Imke Wein

Dass Sylt in den letzten 200 Jahren immer wieder bunte Vögel anzog, ist eine Win-Win-Situation, die viel Farbe ins Friesische Grau brachte und bis heute bringt. Ob es der Berliner Arzt Dr. Paul Dahlke war, der auf Sylt zu Beginn des 20. Jahrhunderts das erste Buddhistische Kloster bauen wollte, sich der Visionär Ferdinand Avenarius in die Insel verliebte oder ebenso der Lebemann Gunter Sachs, ob die exzentrische Performance-Künstlerin Valeska Gert hier ihren unfassbar schrägen „Ziegenstall“ eröffnete oder es das anthroposophisch inspirierte „Witthüs“ geben durfte: All das hat Sylt gutgetan, sowie Sylt diesen bunten Lebensentwürfen guttut. Möge das doch bitte gerne so bleiben…